Individualpädagogische Maßnahme – Projekt mit dem Schiff "Orca"
Einige von den uns anvertrauten Jugendlichen haben meist Mehrfachdiagnosen, gelten als nicht therapierbar. Für eine stationäre Unterbringung fehlt des Öfteren ein Mindestmaß an sozialen Kompetenzen, um den Anforderungen eines „durchschnittlichen „Heimalltags“ gerecht zu werden.
Sie zeichnen sich mehr oder weniger durch folgendes aus:
- Labilität
- Mangelnde Arbeitsbindung
- Mangelnde Interessensbindung
- Mangelnde Kontaktbindung
- Mangelnde Hygiene
- Schulaversives Verhalten
- Bindungsschwäche
- Belastungsschwäche
- Eine gewisse Intoleranz gegenüber Anweisungen
- Mangelhafte Fähigkeit, Reglementierungen zu akzeptieren
- Hohe Impulsivität: Unruhe, Abenteuerlust, Sensation, Angst-Lust-Gefühl = Thrill (um Angst und Depression abzuwehren)
- Aggressivität
- Eine geringe Frustrationstoleranz
Pädagogisch erlebten wir besonders folgende Verhaltensweisen als sehr kritisch:
- Gewaltförmige Verhaltensweisen, auch gegen andere Jugendliche, aber auch gegen Erwachsene, nicht gegen MitarbeiterInnen
- Drogenkonsum, auch in den Einrichtungen inklusive Weitergabe/Handel mit Substanzen und Einbezug anderer Jugendlicher
- Häufige Entweichungen, verbunden mit riskanten Verhaltensweisen während der Abwesenheit
- Extreme Formen der Selbstgefährdung
- Eskalation in der Schule, Familie, Wohngruppe usw.
- Häufige Entweichungen, Leben auf der Straße oder bei „Ersatzfamilien“
- Diebstähle und Erpressungen, etc.
Wie reagieren oft die verantwortlichen Systemteilnehmer mit unseren schwierigen Jugendlichen?
- Schule: "Nicht zu beschulen!"
- Jugendamt: "Fehlende Mitwirkung, keine Motivation → Psychiatrie oder Justiz sind zuständig!"
- Wohngruppe: "Wir schaffen es nicht, wir können nicht mehr!"
- Kinder- und Jugendpsychiatrie: Keine Therapiebereitschaft, keine akute Gefährdung; Pädagogik steht im Vordergrund → Jugendhilfe ist zuständig.
- Polizei/Staatsanwaltschaft: Ermittelt, stellt Strafanzeigen. Aber → Grundsatz: Erziehung vor Strafe; Jugendhilfe oder Kinder-Jugendpsychiatrie zuständig.
- Richter: Wurden alle milderen Mittel ausgeschöpft? Rückgabe der Zuständigkeit an die Jugendhilfe und Psychiatrie.
Auf dieser geschilderten Grundlage mussten wir folgende Fragen klären:
- Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit diese Jugendlichen nicht dagegen kämpfen müssen?
- Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit die MitarbeiterInnen und die Rahmung insgesamt (z.B. Schule, Wohnung) die Jugendlichen aushalten kann?
Unsere Überlegungen:
- Brauchen wir Spezialsettings und wie sind diese strukturiert?
- Wie kann Belastung so verteilt werden, dass keiner "aufgesaugt" wird?
- Mittels welcher Strukturen kann eine stimmige Hilfe geplant und installiert werden?
- Welche Möglichkeiten der zeitlichen und personellen Kontinuität können angeboten werden, wenn Setting-Veränderungen notwendig sind?
Welche Angebotsstrukturen brauchen wir?
- Kontinuität
- Verlässlichkeit
- Sehr enge und vernetzte Zusammenarbeit mit dem Jugendamt/Haltung des Jugendamtes/Offenheit, die wir erleben durften.
- Eine niederschwellige Hilfe
- Möglichkeiten flankierender Hilfen für bestehende Settings
- Bestimmendes Element ist dabei das Vertrauen und die Beziehung zu dem Jugendlichen!
➢ mit wachsendem Vertrauen können die Prozesse dynamischer und die Strukturen offener werden.
Um nicht zu sehr ins Detail zu gehen, kommt hier meine Erfahrung mit Wasser und Kanalfahrten zum Tragen. Ich erlebte die Jugendlichen bei verschiedenen Fahrten mit dem Boot – also in einem anderen Kontext, wo es schwer ist, an Drogen oder Alkohol zu kommen – ruhiger, reflektierter und offener.
Lohnt sich Erlebnispädagogik bei "diesen" Jugendlichen?
Seit Jahren stehen solche Maßnahmen in der Kritik – sie seien zu teuer, würden nichts bringen und die Jugendlichen auch noch "belohnen", heißt es. Aber stimmt das?
Das Schiff bietet einen geschützten, überschaubaren Lebensraum, klare Rahmenbedingungen, soziale Strukturen und bietet den häufig emotional vernachlässigten jungen Menschen die Möglichkeit neuer Erfahrungen von Nähe und Kontakt. Das Zusammenleben auf engstem Raum ermöglicht ein intensives Kennenlernen der Jugendlichen und den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen.
Die Einbindung der Jugendlichen in den laufenden Schiffsbetrieb unter Anleitung durch den Schiffsführer (z.B. beim Schleusen) ist ein idealer Einstieg in Verlässlichkeit und Arbeiten. Alle während der Bordzeit eingeleiteten Prozesse werden in der Wohngruppe oder im ambulanten Setting fortgeführt und weiterentwickelt.
Die allgemeine pädagogische Kompetenz wird von den Jugendlichen weitgehend als eher unpädagogisch wahrgenommen und empfunden. Dies ist gewollt, da erfahrungsgemäß viele Jugendliche in der Vergangenheit viele pädagogische und psychologische Bemühungen hinter sich haben.
Das Entziehen aus Konfliktsituationen wird durch die räumliche Situation des knapp 13 Meter langen Schiffes erschwert, des Weiteren wird die enge Interaktion mit den Betreuern gefördert. Trotzdem ist Nähe und Distanz durch Rückzugsmöglichkeiten gewährleistet. Die mehrwöchige Präsenz der Betreuer begünstigt die Beziehungsarbeit.
Durch die Schiffsbewegung erleben die Jugendlichen besondere positive Erlebnisse. Neue Umgebungen, wechselnde Häfen, andere Kulturen und Sprachen setzen andere Motive und Bilder und bedingen so Verhaltensänderungen, andere Einstellungen, Toleranzen etc.
Das Leben an Bord eines Schiffes, sei es auch nur für einen Tag, ist von der Notwendigkeit geprägt, aufeinander angewiesen zu sein und auf engem Raum ein Team zu bilden, um das Schiff auf eine für Alle gute Fahrt zu bringen.
Fehler führen in dem engen Lebensraum eines Schiffes zu Konsequenzen und zwar unmittelbar, sei es im Bereich des Manövrierens des Schiffes, oder im Verhalten der an Bord befindlichen Menschen untereinander.
Ziele:
Folgende Ziele sollen während der Maßnahme erarbeitet werden:
Durch die völlig andere Umgebung erfolgt innerhalb kürzester Zeit ein Perspektivwechsel, der für verschiedenste therapeutische Interventionen Chance bietet.
- Abstand vom Herkunftssystem und des sozialen Umfelds – räumlich & seelisch
- Intensive "Nebenbei"-Bearbeitung der momentanen Lebenssituation
- Möglichkeit der Perspektivenentwicklung (kurz-, mittel- und langfristig )
- Intensive soziale Erfahrungen im 1:1 Kontext
- Intensive sensitive Erfahrungen mit der Natur
- Identitätsfindung
- Übernahme von Eigenverantwortung und Entwicklung von Entscheidungskompetenzen
- Entwicklung einer emotionalen Stabilität
- Steigerung des Selbstwertgefühls durch Erfolgserlebnisse, Wertschätzung und positive Verstärkungen
- Erlernen von lebenspraktischen Fähigkeiten
- Sinnvolle Freizeitgestaltung
- Entwicklung von Problemlösungsstrategien
Räumlichkeiten auf dem Binnenschiff Orca
Das Schiff ist 12,35 m lang und 3,85 m breit:
- Eine "Messe" (Mischung aus Wohn- und Esszimmer)
- Eine Kombüse (Küche)
- Eine Doppelkammer für die Jugendlichen
- Eine "Pädagogen-Kammer"
- Eine Dusche, 2 Toiletten und Waschbecken
- Eine Eignerkajüte
Exemplarische Routen:
Beinheim-Koblenz-Mosel-Saar-Straßburg (4-5 Wochen)
Beinheim-Saverne
Beinheim-Burkheim
Gesetzliche Grundlage:
Die Betreuung beruht auf der Rechtsgrundlage des §§ 27 i.V.m. §35 SGB VIII im Rahmen einer intensivpädagogischen 1:1 Maßnahme.
Diese pädagogisch veranlasste Hilfe verfolgt die im Hilfeplan nach § 36 SGB VIII definierten sozialpädagogischen Ziele.
Finanzierung:
Individuelle Zusatzleistungen werden mit dem Landratsamt verhandelt.
Angedacht für "Systemsprenger", aber auch für Jugendliche aus dem ambulanten und stationären Bereich, wie für Familien mit maximal 2 Kindern (hier kann man die Kommunikationsmuster der Familie sehr schnell erkennen und reflektieren).
2020 konnte das Projekt leider noch nicht grundlegend durchgeführt werden, da die Corona-Situation nicht berechenbar war (gerade auch in Bezug auf Frankreich). Die Planung für 2021 wird nun entwickelt.
Für Oktober 2020 sind zwei Touren geplant (soweit Frankreich offen ist):
Eine Tour mit Selina (siehe BT) von Burkheim nach Straßburg (den Rhein zu Tal), dann den Kanal bis oberhalb Lahr (15 Schleusen) = 3 Tage, ebenso mit Paul.